Ethereum

Die Zeitenwende des Vitalik Buterin

Ethereum-Mitgründer Vitalik Buterin ist einer der transparentesten Menschen der Welt. Fast sein ganzes Vermögen liegt onchain für jeden zur Einsicht bereit, und seine Transaktionen spiegeln oft wieder, was ihn bewegt.

Es muss ganz schön unangenehm sein, Vitalik Buterin zu sein, der berühmteste Mitgründer von Ethereum, gleichermaßen Impulsgeber wie Maskottchen der zweitgrößten Kryptowährung. Vitalik Buterin ist unglaublich reich und berühmt – aber die ganze Welt kann ihm in die Wallet schauen.

Spot onchain zeigt acht Wallets von Vitalik an, die insgesamt 746 Millionen Dollar enthalten, davon der absolut größte Teil in Ether (729 Millionen Dollar), gefolgt von USDC (16 Mio.). Mit Sicherheit hat er andere Wallets, aber mit ebenso großer Sicherheit sind auf den öffentlichen Wallets ein großer Teil seines Vermögens, wenn nicht der größte. Und jede Bewegung von ihm wird mit Argusaugen verfolgt, von Spekulanten, die auf einen raschen Gewinn hoffen, und von Journalisten, die nach Klatsch suchen.

Man sieht, was Vitalik mit dem Vermögen macht, das ihm zugefallen ist – und man kann onchain verfolgen, womit er sich beschäftigt. Selten gehen Transaktionen und Idealismus so eng Hand in Hand, Vitaliks Wallet ist nicht einfach nur ein Konto für Finanzielles – es ist ein Buch, ein Manifest.

Vitaliks Zeitenwende

Erst vor wenigen Tagen hat Vitalik 400 Ether (ETH) – circa eine Million Dollar – an das Railgun-Protokoll überwiesen. Das ist nicht das erste Mal, er hat schon vor knapp einem Jahr einen ähnlichen Betrag an Railgun gesendet.

Screenshot von Spot onchain.

Railgun ist ein Privacy-Protokoll auf Ethereum, ein Smart Contract, der, ähnlich wie der mittlerweile sanktionierte Mixer Tornado Cash, Usern hilft, ihre Token zu anonymisieren. Man verbrennt Token und schöpft neue, durch einen Zero-Knowledge-Proof beweist man, dass man Token verbrannt hat, ohne zu verraten, welche. Es gibt Unterschiede zu Tornado Cash, aber das Grundkonzept ist dasselbe, und um die Details geht es hier nicht.

Vitalik Buterin setzt sich seit langem für mehr Privatsphäre auf einer Blockchain ein. Gerade er weiß schließlich, was es bedeutet, wenn man eine gläserne Wallet hat und die ganze Welt beobachtet, was man wo hin überweist.

In einem langen, autobiographischen Blogpost erzählt er vom „Ende meiner Kindheit“. Der 23. Februar 2022 war ein Schlüsseldatum. „Ich erinnere mich noch daran, wie ich von Schrecken erfüllt in meinen Hotelzimmer in Denver in den Fernseher schaute, um 7:20 Uhr lokaler Zeit.“ Russland fuhr mit Panzern über die Grenze und schickte Bomber nach Kiew. Der Beginn des staatlich organisierten russischen Massenmords auf fremdem Boden läutete nicht nur für Bundeskanzler Scholz, sondern auch für Vitalik Buterin eine Zeitenwende ein.

Am nächsten Morgen erfuhr er, dass die Regierung der Ukraine auf Twitter nach Krypto-Spenden ansuchte. Er dachte zunächst, es müsse ein Betrug sein, womöglich von den Russen, erfuhr aber rasch, dass es tatsächlich echt war, und postete das auf Twitter. Danach geschah das, was alles ändern würde: „Eine Stunde später sandte mir ein Verwandter eine Nachricht, dass ich nun zu meiner eigenen Sicherheit nicht mehr nach Russland reisen sollte.“

Vitalik Buterin spürte am eigenen Leib, wie unangenehm finanzielle Transparenz sein konnte. Er begann, Anonymisierungs-Protokolle zu verwenden, um anonym zu spenden, erst Tornado Cash, später Railgun. Privatsphäre ist, betont Vitalik, „normal“, und er meint damit, dass sie normal sein sollte, nicht die Ausnahme, sondern der Standard. Er begann, sich intensiver mit Technologien auseinander zu setzen, die Ethereum privater machen, etwa Stealth Addresses, und ihnen durch das Gewicht seines Namens Prominenz zu verschaffen.

Eine zweite Vision für Krypto

Aber damit hört die Zeitenwende des Ethereum-Mitgründers nicht auf. Er realisierte auch, dass sein bisheriges neutrales, von Moral freies Handeln, das sich nur an Krypto ausrichtet, einen Preis hatte.

„Zu den meisten meiner Entscheidungen in Ethereum gehörte auch, auf den Druck und die Wünsche anderer Leute zu reagieren. Als ich Wladimir Putin 2017 traf, habe ich nichts dazu beigetragen, das Treffen zu arrangieren; stattdessen hat jemand anderes es vorgeschlagen und ich sagte ‚ok’“. Ok, weil es gut für Ethereum war, selbst wenn man Putin kritisch sieht, ok, weil eher Ethereum Putin verändert als dieser Ethereum. Nun, fünf Jahre später, „realisierte ich schließlich, dass (i) ich mich zum Komplizen gemacht habe, um einen genozidalen Diktatur zu legitimieren, und ich (ii) nicht länger den Luxus habe, mich im Krypto-Space zurückzulehnen und mystische ‚andere Leute‘ den Laden schmeißen zu lassen.“

Anstatt ein Maskottchen seiner eigenen Schöpfung zu sein, sucht und formuliert Vitalik „eine zweite Vision, wie sich der Krypto-Space entwickeln kann, um besser die Nöte und Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts zu treffen.“ Er will sich nicht mehr im Strudel des eigenen Erfolgs von anderen umhertreiben lassen, sondern selbst gestalten; keine Kompromisse mit dem eingehen, was dem Erfolg am Mark hilft, sondern zurück zu den Wurzeln gehen, zu Idealen.

Blockchains sollen die Freiheit der Menschen schützen. Sie sollen Autonomie und Privatheit gewähren, die unheilvolle Dichotomie von „anonym und nicht vertrauenswürdig“ oder „vollständig verifiziert“ auflösen, finanzelle Unabhängigkeit schaffen und all das. Blockchains sollen diesen Idealen gerecht werden, sie sollen die Utopie einer bessern Welt befördern, anstatt Gefahr zu laufen, in eine Dystopie abzurutschen.

Defensive Beschleunigung

Aber Vitalik Buterins Wallets verrät derzeit nicht nur sein Interesse an Privacy, sondern auch an „d/acc“. Wenn er nachdenkt, kann man das zuweilen in seiner Wallet nachvollziehen.

Vor kurzem hat Vitalik für rund 500 Dollar die ENS-Adresse „dacc.eth“ gekauft. Dies geschah just wenige Tage, bevor er auf einem Twitter Space (heute X) das Konzept der „defensive accelerationism“ (d/acc) beschreibt, zu deutsch: der defensiven Beschleunigung. Die Privacy, die Railgun und andere Technologien ermöglichen, ist in Vitaliks Welt ein Teil des Größeren – von d/acc. Er hat das Konzept im vergangenen November in einem schönen, aber langen Post mit dem Titel „My techno-optimism“ vorgestellt, „mein Technik-Optimismus“.

Die Grundlage ist ein „effective accelerationism“ (e/acc), die optimistische Technikphilosophie der „effektiven Beschleunigung“: Technologischer Fortschritt hat Vorteile, immer mehr als er Nachteile hat, daher gilt, je mehr und schneller, desto besser, daher ist es moralisch, ihn bedingungslos so sehr zu beschleunigen wie möglich.

Die Ruine bei Bad Urach. War die Welt wirklich besser, als sie noch uneinnehmbar war? Bild von Polybert49 via flickr.com. Lizenz: Creative Commons

In vielen Gebieten sympathisiert Vitalik mit diesem Standpunkt, etwa in der Medizin. Die Erhöhung der Lebenserwartung allein in den vergangenen 100 Jahren ist ein leuchtendes Zeichen für den Erfolg der medizinischen Technik. Skeptischer ist er aber bei anderen Technologien, etwa KI oder Militär.

„Im gegenwärtigen Kontext 2023, in dem diese Technologie durch die Vereinigten Staaten gemacht und unverzüglich angewendet wird, um die Ukraine zu verteidigen, ist es einfach, zu sehen, wie sie eine Kraft fürs Gute sein kann. Aber wenn man eine weitere Perspektive einnimmt, verlangt der Enthusiasmus für militärische Technologien den Glauben, dass die dominante technologische Macht zuverlässig auf der richtigen Seite in den meisten Konflikten stehen wird, heute und in Zukunft.“

Wer eine unbeschränkte Beschleunigung der Militärtechnologie verlangt, setze alles drauf, so Vitalik, dass Amerika auch in Zukunft die stärkste Macht der Welt sein wird – und ein demokratisches, freiheitliches Amerika bleibt.

Eine Welt der Defensive

Vitalik unterscheidet zwischen defensiven und offensiven Technologien. Die einen machen es einfacher, anzugreifen, in einem breiten, nicht allein physisch-militärischen Sinn, die anderen fördern die Verteidigung.

„Eine Welt, die Verteidigung fördert, ist aus vielen Gründen eine bessere Welt“, beschließt Vitalik, denn „weniger Menschen sterben, weniger ökonomische Werte werden zerstört, weniger wird auf Konflikte verschwendet.“ In einer Welt, die die Defensive befördert, „ist es einfacher für gesunde, offene und freiheitliche Regierungsformen zu überleben,“ wie die Schweiz, die durch die Alpen einen natürlichen Vorteil in der Defensive bekommt.

Diese Aussage mag partiell wahr sein, wie am Beispiel der Schweiz, ist absolut gesehen aber naiv. Beispielsweise war das Mittelalter eine Zeit der Defensive, bevor die fortschrittlichen Kanonen eines der Offensive einleiteten. Doch im Schutz ihrer Burgen konnten Barone das Volk unterjochen, in Fehden wurden keine Burgen, sondern Felder verheert, und Städte wurden nicht gestürmt, sondern in quälenden Belagerungen zermürbt. Eine „bessere Welt“ war es nicht unbedingt.

Man solle, so der Kern von Vitaliks Theorie, die defensiven Technologien so rasch wie möglich beschleunigen, um vorbereitet zu sein, wenn die Beschleunigung der Offensive es nötig macht. Je besser die digitale Verteidigung, desto weniger muss man Hacker verfolgen und User ausspionieren. Je besser man andere Accounts auf Twitter blocken kann, in Browser-Apps Betrug identifiziert oder gemeinsam, desto weniger muss man über Zensur nachdenken. Je schneller man Impfungen herstellt, desto weniger muss man Superspreader beobachten und Lockdowns einführen. Es funktioniert nicht immer, aber oft machen starke defensive Technologien die Offensive überflüssig, oft sind sie genau das, was Freiheiten bewahrt.

Oft hat die Stärkung der Defensive jedoch einen Preis. Der Kampf gegen Spam hat beispielsweise zu einer Oligopolie der E-Mail-Anbieter geführt, viele Apps, etwa Twitter, blockieren Internetadressen von VPN oder Tor und so weiter. Der Kampf gegen Missbrauch setzt, so wie beim Double Spending vor Bitcoin, voraus, dass es einen zentralen Mittelsmann gibt, der Kontrolle ausübt.

Blockchains, so Vitalik, erlauben Sicherheit ohne „von einem zentralisierten Akteur abhängig zu sein.“ Daher sollte man alles daran setzen, dezentrale, defensive Technologien auf Basis der Blockchain zu entwickeln, um den offensiven Bedrohungen der Gegenwart gerecht zu werden. Vitalik mag damit etwas naiv argumentieren, doch er artikuliert ein ehrenhaftes und breites Ziel.

Quelle

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